Bina und Shadow
„Da siehst Du es wieder –sie-
werden sich nicht ändern!“ sagte Bina mit einem Seitenblick auf
Shadow,
der vor sich hin döste und nun gelangweilt den Kopf hob, um die Nase witternd
in den lauen Wind zu halten, der von den Bergen herab gleitet und die Luft versüßte.
„Nein“ murrte er und legte sich wieder hin, um
erneut in einen Halbschlaf zu versinken. Sie kann sich einfach nicht damit
abfinden, dachte er und öffnete die Augen zu einem schmalen Schlitz, um Bina
weiter zu beobachten. Sie war ihm sehr teuer geworden seit sie hier zu ihm
gekommen war. Hier an diesen Ort, an dem so viele Hunde kamen, die ihr Dasein in
der Menschenwelt beendet hatten oder es beenden
mussten.
Viele waren
vor ihr da gewesen, aber keine war wie sie.
Nach
so vielen Jahren der Einsamkeit war sie es gewesen, die sein Herz erreicht hatte
und er konnte bis heute nicht sagen, wie sie es geschafft hatte.
Dass Bina
den Blick nicht von den Menschen abwenden konnte, war ein Umstand, an den er
sich langsam gewöhnte. Für ihn waren die Menschen nach seinem Tod nicht mehr länger
wichtig. Selbst mit jenem Menschen, der ihn mit einem Schuss von der
menschlichen Welt an diesen Ort gebracht hatte, hatte er eine Art Frieden
geschlossen. Er schaute einfach nicht hin.
Aber Bina
tat es. Und sie schaute nicht nur, sondern sie passte regelrecht auf. Sie wusste
immer wo sich die Menschen, bei denen sie einst gelebt hatte, befanden und was
sie taten. Sie war eben weiß. Und die Weißen sind nun mal anders, dachte
Shadow.
„Oh nein,
was macht sie denn jetzt?!“ unterbrach Bina seine
Gedanken und Shadow folgte ihrem Blick. Wie erwartet,
ging es um Gudrun. Sie war die Menschenfrau gewesen,
der Bina ihr Leben lang treu und ergeben gefolgt war.
„Was
meinst Du?“ fragte Shadow irritiert.
„Sie
vertraut wieder Fremden, die freundlich zu ihr sind“,
kommentierte Bina und erhob sich. Noch immer konnte
Bina den Geruch der Menschen wahrnehmen und
schnupperte nun forschend in das Bild hinein,
welches sich den beiden zeigte. Dann legte sie
sich wieder hin und die Haltung ihres Kopfes
und der Ohren verriet, dass sie sehr aufmerksam verfolgte, was in der Menschenwelt geschah. Sie beobachtete einen Raum, in dem sich viele Menschen
versammelt hatten. Einer von ihnen saß an einem Tisch frontal vor den Anderen
und begann zu sprechen. Bina`s Frauchen saß mitten zwischen den anderen und hörte
zu. Aber Bina spürte, dass ihr Frauchen sich sehr unwohl fühlte - nur warum,
das konnte sie nicht sagen.
Sehr
misstrauisch hatte sie beobachtet, was in den letzten Jahren geschehen war. Ihr
Frauchen hatte sich nach ihrem Tod sehr gegrämt und lange Zeit getrauert. Noch
heute gab es Momente, in denen sie beim Gedanken an Bina Tränen vergoss und
nach langer Zeit hatte Delena als Älteste im Rudel die Führung übernommen.
Gudrun
kannte viele Geheimnisse der Hunde. Bina vermochte nicht zu sagen, warum das so
war und woher sie diese Geheimnisse hatte. Selbst Shadow hatte dies im Laufe der
Jahre bemerkt, in denen sie gemeinsam das Schicksal der Menschenwelt weiter
beobachteten. Mehr als einmal hatte sie Bina vor dem sicheren Ableben aus der
Menschenwelt bewahrt, mutig und entschlossen. Und auch das Leben ihrer anderen
Hunde schützte sie auf fast magische Weise. Aber nicht nur das, sondern auch
Welpen und alte Hunde verstand und behandelte sie so, wie es kaum andere
Menschen konnten oder sich trauten.
„Ich befürchte,
sie verrät unsere Geheimnisse wieder an Menschen, die sie missbrauchen“,
sagte Bina besorgt.
„Nein“,
erwiderte Shadow, „ich glaube, sie hat Deine Botschaft bekommen. Du hast sie
sicherlich erreicht“, knurrte er liebevoll und stupste sie in die Seite, um
sie von ihren Sorgen abzulenken.
Lange hatte
es gedauert, bis sie die Erlaubnis bekommen hatte, in den Träumen der Menschen
zurück zu kehren. Nur sehr selten wurde diese Erlaubnis erteilt und Bina
hatte
nicht aufgegeben, darum zu kämpfen.
Und Gudrun
hatte verstanden, was Bina zu sagen hatte.
Abgelenkt
von ihrer Unterhaltung durch lautes Geschrei
wandten Bina und Shadow wieder der Menschenwelt zu
und sahen, dass Gudrun den Raum verlassen hatte und
sich die anderen weiter aufgeregt und laut unterhielten.
„Wir können
und dürfen uns dieser neuen Entwicklung
nicht entziehen“ rief der Mann, der am Tisch vor
den anderen saß. „Wir müssen in unserer Zucht
alles was krank und missgebildet ist, ausschließen,
wenn wir die Chance dafür
haben und dürfen uns nicht immer wieder von Leuten wie Gudrun
irritieren
lassen!“ schrie er weiter sehr aufgeregt und seine Stimme überschlug sich.
„Auch wenn
das Genmaterial für andere Zwecke benutzt werden sollte, ist es doch für einen
guten Zweck und die Ängste von manchen Leuten sind lächerlich“ schickte er
hinterher und im Raum entstand eine aufgeregte Diskussion zwischen den
Anwesenden, die für die Hunde nicht mehr zu verfolgen war.
„Erklärst
Du mir noch mal, worum es geht?“ fragte Bina verunsichert und schleckte
Shadow`s Lefzen, um sich neben ihm nieder zu lassen.
„Ja wenn Du willst, höre gut zu:
Du siehst,
wir sind unterschiedlich. Du bist weiß oder fast weiß (und er warf einen
liebevollen Blick auf ihren Körper) und ich bin braun und schwarz. Wir haben
sehr unterschiedliche Freunde. Sie sind klein, groß, dunkel hell, haben
stehende oder hängende Ohren, kurze oder lange Beine und Ruten, kurzes oder
langes Fell und noch so manche andere äußerliche Unterschiede. Aber auch
unsere Wesenszüge unterscheiden sich. Ich liebe die Jagd über alles, Du beschützt
lieber ein Lebewesen, unsere Freunde spielen gerne mit Bällen, sind träge oder
agil, sind schnell sauer oder immer gutmütig, waren in der Menschenwelt kränklich
oder sehr gesund und noch mehr Dinge könnte ich aufzählen. Alle diese Dinge
geben wir in der Menschenwelt an unsere Welpen weiter, wenn wir uns paaren. Die
Menschen haben dafür gesorgt, dass wir uns nur noch mit solchen Hunden paaren dürfen,
die sie für uns aussuchen. Sie wollen manche Eigenschaften von uns nicht haben.
Andere schon!“ Shadow war während seines Vortrages aufgeregt aufgestanden und
stand nun mit aufgerichteter Rute und aufgestelltem Nackenfell vor dem Bild der
Menschenwelt und begann zu knurren und zu bellen.
„Sie hätten
niemals zugelassen, dass wir beide uns paaren.
Auch Gudrun nicht!“ knurrte Shadow, der ausgewachsene
altdeutsche Schäferhundrüde und sah in seiner Aufregung
bedrohlich und sehr stark aus.
Bina sah ihn
liebevoll an und redete beruhigend auf ihn ein,
wie sie es immer tat, wenn er begann über dieses Thema
nachzudenken
„Sieh mal
Liebster“, grummelte sie liebevoll und legte
die
Ohren an „ich wäre nicht weiß, wenn mein
Frauchen nicht
darauf geachtet hätte. Und Du
liebst doch so sehr meine
Fellfarbe und meine
langen Wimpern und meine braunen
Augen“.
Mürrisch gähnte Shadow mehrere Male,
so wie er es immer tat, wenn er nicht sicher war wie er sich
verhalten sollte und legte sich wieder hin, ohne den Blick von der Menschenwelt abzuwenden.
„Du hast
ja Recht“, begann Shadow wieder
„aber die Menschen sind anmaßend mit ihrem Verhalten. Wir werden immer kränker und niemals zuvor gab es so viele Ängstliche, Aggressive, Verrückte oder auch Gestörte unter uns. Überleg mal, was
passieren würde wenn sie uns erlauben würden, uns so zu verpaaren, wie wir es
wollen. Was glaubst Du, würde passieren?“
Bina schaute
ihn irritiert an. „Ich weiß nicht so recht“, sagte sie. „Na überleg doch
mal“, forderte sie Shadow auf. „Wenn wir Hunde das über sehr viele
Generationen tun dürften, würden wir vielleicht wieder zu dem, was wir einmal
waren!“
„Du meinst
wir würden wieder zu Wölfen?“ bemerkte Bina erstaunt und schnappte nach
einer Hummel, die sich mit der lauen Luft über die Felder treiben ließ.
„Jedenfalls
waren wir einmal Wölfe und wir sind heute nur deshalb so unterschiedlich, weil
die Menschen begannen unsere Verpaarungen zu kontrollieren. Sie ließen uns nur
dann verpaaren, wenn Hündin und Rüde beide Eigenschaften hatten, die sie gerne
verfestigen wollten. Nur deshalb gibt es so viele unterschiedliche Hunderassen.
Aber nun beginnen sie auch noch mit ihren Laboren Lebewesen ohne Eltern zu züchten.
Bald werden die Menschen nicht mehr darauf achten müssen, wer sich mit wem
verpaart. Dann gehen sie zu einem Labor und bestellen sich Tiere, die nach ihren
Vorstellungen zusammengestellt werden“, sagte Shadow verbittert und seufzte
tief.
Die beiden
Hunde sahen nun in der Menschenwelt, dass die Diskussion abgebrochen wurde und
sich die Gruppen von Menschen verliefen, die gerade noch in diesem
Raum
miteinander gesprochen hatten.
Am nächsten
Tag war in der Menschenwelt die Sonne
zurückgekehrt, die sich wochenlang hinter Unmengen
dunkler Wolken verborgen
hatte. Gudrun hatte den
Tag benutzt um mit ihren Hunden einzeln zu arbeiten.
Nachdem sie mit allen draußen war und an
unterschiedlichen Kommandos gearbeitet hatte, war sie
nun im Garten und hatte sich mit einer Tasse Kaffee
auf ihrem
Gartenstuhl niedergelassen, um ihre Hunde
zu beobachten. Hope, die junge Hündin spielte mit
Cessy und die beiden tollten um einen Busch herum,
um immer wieder Katz und Maus zu spielen.
Assi hatte sich bequem neben Gudrun gelegt
und kaute an einem Stock und Sue war hineingegangen. Nur Delena, die älteste Hündin war irgendwie unruhig und lief durch den Garten,
um ständig aufgeregt in den Wind zu schnuppern. Immer wieder kam sie zu Gudrun, um sie an zu stupsen, oder mit einem leisen Fiepen sie auf irgendetwas
aufmerksam machen zu
wollen. Gudrun begann sich Sorgen zu machen und kraulte Delena liebevoll die
Brust, um sie ein wenig abzulenken. Plötzlich erschrak Gudrun so sehr, dass sie
beinahe ihre Tasse umgestoßen hätte. Irgendein Ausdruck an Delena irritierte
sie ganz stark und war doch so vertraut, dass sie instinktiv ihre hochgelegten
Beine vom Tisch nahm. Ja nun wusste sie es, sie hatte für einen Augenblick lang
das Gefühl, gehabt, Bina vor sich zu haben. Und für Bina hatte sie immer ihre
Beine heruntergenommen, damit sie ihren Kopf auf ihre Knie legen konnte, um sie
mit einem unnachahmbaren Blick anzuschauen. Der Blick, in dem so viel zu lesen
war und der so vertraut war. Immer wenn sich Bina Sorgen gemacht hatte und
Gudrun auf etwas hatte aufmerksam machen wollen, hatte sie sie mit diesen Augen
angeschaut. Gudrun wurde von einem Ruf ihres Mannes aus ihren Gedanken gerissen
“Ich glaube es ist soweit!“. Sie riss sich vom Anblick der Hündin los und
betrat das Haus. Sue hatte sich in die Wurfkiste gelegt. Am Gesichtsausdruck und
der Körperhaltung bemerkte Gudrun sofort, dass die Wehen eingesetzt hatten.
Der I- Wurf
kam.
Mit langen Sätzen jagte Shadow Bina hinterher. Seit sie hier war machte ihm das
Jagen wieder Spaß. Sie war eine ungeheuer schnelle und instinktsichere Jägerin
und hatte das Jagen hier erst entdeckt. In der Welt der Menschen war es Hunden
nicht erlaubt zu Jagen. Für Shadow hatte es tödlich geendet dieses Tabu zu
brechen. Aber hier und mit Bina wurde es zu einem der natürlichsten Dinge der
Welt, zu einem Rausch mit ungeahnten Glücksgefühlen und einer nie zuvor
erlebten tiefen inneren Zufriedenheit. Sie waren inzwischen ein eingespieltes
Team und es dauerte nicht lange bis beide satt und zufrieden im Schatten dösten.
„Du
schaust zu oft in die Welt der Menschen“,
sagte Shadow und schaute Bina
zweifelnd an.
„Ja aber
Du weißt doch..“ begann diese und er folgte
ihrem Blick in die Welt der
Menschen, wo Bina
8 muntere Welpen beim Spiel im Garten beobachtete.
„Ja ich
weiß, dass Du nicht mehr Du selbst bist,
wenn Gudrun einen Wurf hat“ seufzte Shadow
weiter und beobachtete Bina
weiter von der Seite.
Dies war
eines der traurigen Dinge, die sie beide
in dieser Welt
nicht erleben konnten. Niemals
würden sie hier Welpen zeugen
können und
deren Aufwachsen beobachten können.
Er wusste,
wie sehr sie sich das wünschte und war zur gleichen Zeit
wütend auf die Menschen, die sich über Herren von Tieren
und Pflanzen erhoben und es in ihrer Welt nicht zugelassen hätten, wenn er sich mit Bina gepaart hätte.
„Deine
Ohren hätten sie gehabt und meine weißen
Pfoten“, erriet Bina seine Gedanken und kniff
ihn zärtlich in die Seite. Im gleichen Moment wurden sie beide von einem leisen
Knacken und einem
kläglichen Wimmern aus ihren Gedanken
gerissen. Erschrocken
beobachteten sie, wie in der Menschenwelt der kleinste Welpe unter einem Zaun
hindurch gekrochen war und versucht hatte, den zugefrorenen Teich zu überqueren
und dabei ins Eis eingebrochen war. Verzweifelt versuchte das kleine Kerlchen
mit seinen Pfoten Halt auf dem rutschigen Eis zu finden und gab dabei wimmernde
Laute von sich. Sofort war Bina auf den Beinen und bellte laut.
Gudrun war
in der Küche und mit der Zubereitung des Welpenfutters beschäftigt. Noch nicht
eine Minute hatte sie bis jetzt die Rasselbande alleine gelassen. Aber auch bei
diesem Wurf kam der Moment, in dem sie genau das tun musste, um sich selbst und
den Kleinen etwas zu zu trauen. Plötzlich überlief sie ein Frösteln und sie hörte
ein vertrautes aber aufgeregtes Bellen.
„Bina?“
rief Gudrun und bemerkte im gleichen Moment welchen Namen sie gerufen hatte.
Genauso hatte Bina gebellt. Das Bellen kam aus dem Nachbarsgarten vom Teich.
Gudrun erschrak. „Die Welpen“, dachte sie und rannte aus der Küche in den
Garten. Schnell bemerkte sie was geschehen war. Mit einem Sprung, den man der in
die Jahre gekommenen Hundezüchterin nicht sofort zugetraut hätte, setzte sie
über den Zaun und war sofort im Teich, um den Kleinen aus dem eiskalten Wasser
zu holen. Später, als der Kleine zufrieden auf ihrem Schoß auf einer Wärmeflasche
eingeschlafen war und sie ebenfalls die kalten Glieder wieder warm spürte,
wurde ihr mit einem Mal bewusst, was sie aufmerksam gemacht hatte.
„Danke
Bina“, flüsterte sie und schloss die Augen,
um erleichtert und dankbar
einzuschlafen.
Bina sog den
Geruch der Menschenwelt ein und legte
sich auf die Seite, um ebenfalls
einzuschlafen.
Shadow bewachte den Schlaf der Frauen.
Eines
Morgens als die Sonne über den Bergen des
Landes auf ging, in dem Bina und Shadow lebten,
lagen die Tiere noch
in tiefen Schlaf. Tau lag
über den grünen Wiesen und die angrenzenden
bewaldeten Hügel lagen noch dunkel in der
Dämmerung. Vom Fluß stieg silberner Nebel
auf und brachte den Duft von Wasser und
dem angrenzenden Moor mit.
An diesem Tag war Bina bereits in einer seltsamen Stimmung,
als sie erwachte. Man hätte es als eine Art innere Unruhe
oder Besorgtheit deuten können. Bina selbst dachte nicht
sonderlich darüber nach, sondern lief sehr oft hin und her, als ob sie etwas Überraschendes kommen sähe oder in Bereitschaft zur Flucht verharren müsse.
Shadow aber fiel es sehr auf und er fragte Bina nach reiflicher Überlegung“ willst Du es tatsächlich wagen? Ich merke, was
in Dir vorgeht, Du musst es mir nicht
erklären.
Warum möchtest Du zu
Gudrun?“
„Delena“
du hast es genauso gespürt wie ich, stimmt’s?“ hechelte Bina aufgeregt und
blieb vor ihm stehen. Shadow hatte es tatsächlich genauso geahnt wie Bina und
er wusste, dass es dieses Mal nicht einfach werden würde. Zu oft schon hatte
sie versucht, die Regeln dieser Welt zu missachten und war in die Menschenwelt
zurückgekehrt, um Gudrun zu beschützen oder sie zu warnen.
Bina und Shadow spürten wie so oft, dass die Lebensuhr eines ihnen gut
bekannten Tieres abzulaufen drohte. Und nun war es Delena, die sich von der
Menschenwelt verabschieden musste. Bina hatte sich in den Kopf gesetzt, sie zu
holen und an diesen Ort zu begleiten.
Diese Mal
musste es unbedingt das letzte Mal sein, so viel stand fest. Denn ansonsten
setzte sie ihr gemeinsames Schicksal auf das Spiel. Ihnen drohte die Verbannung,
die allen Lebewesen drohte, die die Regeln missachteten.
„Du weißt,
dass es diesmal das letzte Mal sein muß“, sagte Shadow müde „ die Wächter
sind alarmiert und haben uns im Auge. Wir müssen sehr vorsichtig sein!“
„Wir
werden sehr vorsichtig sein und ich werde genau das tun,
was Du mir sagst. Ich
vertraue Dir wie keinem anderen
Rüden jemals zuvor“, antwortete Bina
erleichtert und
schmiegte sich an seine Seite.
„Gut –
dann werde ich Dich dieses Mal begleiten!“,
sagte Shadow entschlossen und sah
Bina an.
Bina zuckte zusammen und gab ein leises Winseln
von sich.
„Das
darfst Du nicht tun. Du riskierst ebenfalls die
Verbannung und ich weiß wie
sehr Du an dieser
Welt hängst. Nein, ich nehme Dich nicht mit
und das ist mein
letztes Wort!“ erwiderte
Bina erschrocken. Shadow sagte nichts
mehr, aber in
seinen Gedanken reifte ein unwiderrufbarer Entschluß heran.
Der Wächter
stand am Turm und starrte in den Nebel. Schon seit uralten Zeitaltern hatte er
hier gestanden und die Trennung der Welten gewahrt. Es hatte viele Zwischenfälle
gegeben, die dramatisch geendet hatten. Unzählig viele. Auch heute dachte er
darüber nach, was seine Artgenossen verleitete, nach ihrem Tod die Welt der Menschen wieder und wieder aufzusuchen. Er selbst hatte diesen Drang nie verspürt.
Menschen waren für ihn zeit
seines Daseins in der menschlichen Welt lediglich
Quelle
für unendliche Qualen und Leid gewesen. Aufgeschreckt durch ein Geräusch
fuhr er herum und starrte
in den nahen Waldsaum. Witternd hob er den Fang in den Wind. Er konnte trotz des Gegenwindes einen feinen Geruch einer Hündin
wahrnehmen, die er jedoch nicht sehen konnte. Aber wenige Augenblicke später
trat vorsichtig und sehr wachsam eine weiße Hündin aus den schützenden
Schatten des Waldes und spähte über die nahe Lichtung zum Wachturm herüber.
Der Wächter erzitterte. Sie war zurückgekehrt.
Lange hatte er auf diesen
Augenblick gewartet. Schon einmal hatte er sie verfolgt und trotz seiner
atemberaubenden Geschwindigkeit und seinen kraftvollen Sätzen war er den
eleganten Sprüngen der haken
schlagenden
Hündin nicht gewachsen gewesen. Nun fühlte er seine Chance nahen. Während er
noch in den Erinnerungen gefangen war, jagte die Hündin plötzlich mit feinen
energischen Sprüngen über die Lichtung und durch die Dunkelheit auf das Tor
der Welten zu. Der Wächter setzte sich in Bewegung und versuchte ihr seitlich
den Weg abzuschneiden. Aber sie war zu schnell und bevor er nahe genug an sie
heran kam, um das aufgeregte Hecheln ihrer Kehle zu hören, sprang sie mit einem
großen Satz durch das Tor und war für ihn unerreichbar. Gerade als er sich auf
den Weg zurück machte und mit sich haderte, wurde er wiederum von einem Geräusch
aufgeschreckt. Er fuhr herum und sah gerade noch eine riesige schwarzbraune
Hundegestalt durch das Tor springen. Mit einem Seufzen legte er sich erneut auf
die Lauer und kämpfte gegen seine Müdigkeit an.
Im Norden
erhob sich der Morgenstern, der den nahenden Tag ankündigte.
Gudrun
setzte sich erschöpft auf die Bettkante und sah in den
großen Hundekorb, der
in ihrem Schlafzimmer stand in dem
auch Bina einst ihre Nächte verbrachte. Hier
schlief seit
Bina`s Tot Delena, die älteste Hündin des Rudels.
Delena
machte Gudrun Sorgen, irgendetwas stimmte nicht
mit ihr. Schon seit Wochen hatte
es gesundheitliche
Probleme gegeben, die nicht wirklich gut verheilten.
Hinzu kam,
dass Gudrun ständig an Bina denken
musste. Ihre Bina! Ihren Tod hatte sie nicht
wirklich gut verkraftet, denn Bina war etwas
ganz besonderes gewesen und niemals
zuvor
und auch nicht danach hatte sie eine ähnlich
enge Bindung an ein Tier wie
seinerzeit zu Bina. Sie fühlte auf eine seltsame Art ihre Gegenwart - in
letzter Zeit besonders intensiv.
Delena hatte
seit der Futteraufnahme nur geschlafen oder war sehr unruhig auf und abgelaufen.
Nun lag sie
erschöpft in ihrem Korb und ließ sich von Gudrun streicheln. Langsam beruhigte
sich Delena und fiel in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen wachte Gudrun
aus einem unruhigen
Schlaf auf und beobachtete sofort, dass sich Delena`s Zustand verschlimmert hatte. Ihre Augen und der Blick
verrieten, dass es sehr
ernst war.
War das das
Ende? War der Tag gekommen,
an dem sie sich von Delena verabschieden musste?
Als Delena
versuchte aufzustehen, bemerkte Gudrun sofort, dass Delena kaum stehen konnte.
Als sie
versuchte aus dem Korb zu steigen, knickte sie mit den Hinterläufen ein
und wimmerte. Gudrun verständigte ihre Tierärztin. Als sie eintraf, hatte
Gudrun bereits das Gefühl, dass Delena sie nicht mehr erkannte und auch nicht
mehr ansprechbar war. Die Verschlechterung setzte sich unaufhörlich fort.
Am 17.9.2007
um 11.10 hörte Delena`s Herz auf zu schlagen und Delena verlies die
Menschenwelt.
Die nächsten
Tage waren für Gudrun wie ein unendlicher dichter schmerzender Nebel, aus dem
es kein entrinnen gab. Sie konnte weder richtig schlafen, noch hatte sie
Appetit
auf Essbares. Ihr Mann machte sich große Sorgen und
versuchte sie zu trösten.
Aber Gudrun wusste sehr genau,
dass dieser Schmerz durchlitten werden wollte.
Nach
vielen unzählbaren Tagen, die vergingen wie ein Taumel
von Tränen und
Erinnerungen, hatte Gudrun einen Traum.
In jener Nacht träumte sie, dass sie
mit ihren Hunden
draußen am Waldsaum war, dort wo sie so oft mit Bina
gewesen
war, als diese noch ein Welpenmädchen gewesen
war. Plötzlich hörte sie aus
dem Wald kommend ein
Knacken und das Brechen des Unterholzes. Sie
beobachtete
einen riesigen altdeutschen
Schäferhundrüden, der aus dem Schatten
des Waldes
hervor geprescht kam und sie
nicht beachtete. Mit einer atemberaubenden
Geschwindigkeit setzte er großen Sätzen und
mit einer geduckten Körperhaltung
über
die angrenzende Wiese. Gudrun verfolgte ihn mit ihren Blicken und sah,
dass er am Ufer des nahenden Flusses zwei weiße Hundegestalten ansteuerte, die
offenbar auf ihn warteten. Ihre aufrechten und aufs äußerste gespannte Körperhaltungen
und das nervöse Tänzeln ihrer Läufe verrieten ihre Aufregung und zeugten von
großer Konzentration. Im Traum setzte sich Gudrun in Bewegung. Sie wollte auf
die Hunde zugehen, als der große Rüde die weißen Hundegestalten erreichte und
ihnen die Schnauzen leckte. Aber gleich darauf setzte er sich wieder in Bewegung
und hastete die Böschung des Flussufers hinunter. Unten am Wasser blieb er
stehen und schaute zurück. Gudrun kam näher. Sie kannte die Hunde, sie kannte
ihre Silhouetten und ihre Bewegungen.
Plötzlich
blieb eine der Hündinnen stehen und schaute in ihre Richtung. Mit jeder
Bewegung und mit dem Licht der sich zeigenden Sonne, die die einzigartige Färbung des elfenbeinfarbenen Fells genauer zeigte, wuchs in Gudrun die Gewissheit, dass
sie diese Hündin genau kannte.
Es war nicht Delena.
Gudrun hielt die Luft an
und blieb stehen. Die Hunde standen ebenfalls still und schauten in ihre
Richtung. Plötzlich löste sich die Hündin aus der Gruppe und kam auf sie zu.
Als sie näher kam, erkannte Gudrun, dass ein helles Leuchten sie umgab.
Es gab
keinen Zweifel, diese Hündin war ihre Bina!
Als Gudrun
an diesem Morgen erwachte, hatte sie sich verändert. Nachdem sie ein kräftiges
Frühstück
zu sich genommen hatte, ging sie mit ihren Hunden Assi, Cessy, Sue
und Hope mit einem zufriedenen Blick hinaus in den Garten und spielte mit einem
jedem bekannten ausgelassener und zufriedener Art,
die man von Gudrun kante.
Als Michael
seine Frau vom Balkon aus beobachtete, stieß er einen großen Seufzer der
Erleichterung aus.
Die
Welt hatte sie wieder.
©
Zwinger vom Kaisersbrunnen 2007
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